Mit dem Beginn der zweiten Staffel unseres Podcasts ziehen wir Schlüsse aus der Geschichte und stellen uns dem Aktuellen im Viertel. Wir besuchen das Ruhr-Gymnasium in Witten. Die Bildungseinrichtung ergänzte ihren Namen um den Slogan „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Ist es nur ein Slogan oder wird dieser tatsächlich im Alltag gelebt, fragen wir Schülervertreter San Jola, der seit zwei Jahren die Schule besucht. In der letzten Episode stellten wir die Geschichte des Ruhr-Gymnasium in der Zeit vor, als die Synagoge noch hier gegenüber stand und nicht so freundlich behandelt worden ist. Bevor wir auf die Geschichte eingehen, fragt Kerstin San, was bedeutet der Slogan konkret?
Podcast
Interview
San: Damit wollen wir sagen, dass unsere Schule eine diverse Schule ist, dass wir den Rassismus nirgendwo in unserer Schule dulden und, dass wir auf unsere Kompetenzen achten. Das zählt in dieser Schule.
Kerstin: Das Ruhr-Gymnasium macht seit vielen, vielen Jahren immer die Reden-Vorbereitung und Veranstaltung am 9. November, denn immer am 9. November gibt es hier von der Schule am Denkmal der ehemaligen Synagoge eine Gedenkveranstaltung. Was macht ihr da?
San: Wir wollen klar sagen, dass unsere Schule eine Verantwortung zu tragen hat. Genau deshalb, weil wir in der Kriegszeit gegenüber der Synagoge standen und das Haus drüben sehr unmenschlich behandelt wurde. Jedes Jahr mit der Schülervertretung und mit den anderen Parteien sammeln wir uns dort und wir betonen, dass in dieser Stadt keine Menschenfeindlichkeit stattfinden darf.
Kerstin: Ralf und ich wir kommen jedes Jahr. Wir hören uns das immer an, was sagst Du als Historiker dazu? Arbeiten die Schüler gut? Machen die das richtig?
Ralph: Zum Glück bin ich kein Lehrer und muss das nicht beurteilen. Es ist jedes Jahr anders. Manchmal finde ich das zu moralisch. Ich überlege gerade, Du hast gesagt „Schule ohne Rassismus“. Ich hätte erwartet „Schule gegen Rassismus“ und vielleicht kommt das, was ich „Moral statt Politik“ nenne daher, dass die „Schule ohne Rassismus“ statt „Schule gegen Rassismus“ sein soll.
Kerstin: Verstehst Du den Unterschied?
San: Ich kann das sehr genau nachvollziehen. Das ist für uns ein bisschen schwierig, denn wir sind Schülerinnen und Schüler und wir haben Aufgaben, die wir machen können. Es gibt ganz viele wunderbare Aufgaben, die wir nicht in der Schule machen können. Draußen kann ich bestätigen, dass die Mehrheit – wenn nicht sogar alle Schülerinnen und Schüler unserer Schule – gegen Rassismus sind und in verschiedenen Gremien dieser Stadt gegen Rassismus kämpfen. In der Schule wird in dieser Art der Kampf nicht stattfinden, aber wir betonen klar, dass Rassismus keinen Platz in dieser Schule hat.
Kerstin: Hat es schon Ausnahmen gegeben? Gab es keine Pöbeleien gegen jemanden mit vielleicht türkischem Hintergrund? Du kannst mir doch nicht erzählen, dass das überhaupt nicht vorkommt hier.
San: Natürlich gibt es das, in einer Schule mit circa 1000 Schülerinnen und Schülern. Es kommt auch vor, dass manchmal zu heftige Auseinandersetzungen stattfinden, aber das sind sehr, sehr wenige Einzelfälle. Wenn es dazu kommt, werden wir als SV aber auch mit Lehrkräften gemeinsam darüber sprechen, wo das Problem genau liegt. Im Großen und Ganzen sind wir zum Glück eine demokratisch orientierte Schule, und die Schülerinnen und Schüler sind auch ziemlich menschenorientiert.
Kerstin: Ja, wir sind jetzt im Jahr 2022. Ralph, wann bist du denn hier zur Schule gegangen? Du bist auch ein ehemaliger Schüler dieses Ruhr-Gymnasiums.
Ralph: Ich habe hier 1974 Abitur gemacht, also es ist ziemlich lange her.
Kerstin: Wie war das damals?
Ralph: Ja, da war das natürlich überhaupt kein Thema. Damals – als ich auf die Schule kam –wenn ich eine Anekdote erzählen darf, wurden wir erstmal als Sextaner standardmäßig von den Quartanern verprügelt. Das war damals ein Initiationsritual – da musste man durch.
Als ich Quarta war, war das leider 1968, da hat sich alles geändert. Die Quartaner oder die Schüler aus der Oberstufe liefen nicht mehr im Anzug rum, und das Verprügeln kleiner Schüler hörte auch auf. Ich hatte mich zwei Jahre darauf gefreut, dass ich in die Quarta komme und endlich die Sextaner verhauen darf. Das wurde damals abgeschafft.
Das war eine Schule ohne Mädchen. Es hieß damals auch nur Städtisches Jungen Gymnasium Witten. Es war ganz klar eine Upper-Class-Schule. Ich war einer der ganz wenigen Schüler, dessen Vater nicht Sparkassendirektor, Unternehmer oder ähnliches war, sondern ein Handwerker. Das habe ich auch gemerkt.
Nicht Deutsche gab es in meiner Erinnerung gar keine auf dieser Schule. Die WAZ hat gerade eine Serie gemacht „Gastarbeiter in Witten.“ Die haben sich damals scheinbar noch nicht durchgekämpft bis aufs Gymnasium. Ich habe keine Erinnerung daran, jemals einen nicht-deutschen, nicht-weißen Schüler neben mir gesehen zu haben.
Kerstin: Du bist ja jemand geworden, den wir schon kennengelernt haben. Zu dieser Entwicklung hat diese Schule dazu beigetragen? Oder ist es später gekommen?
Ralph: Keine Ahnung, ich würde sagen, es ist später gekommen. Ich habe Unterricht von Nazis bekommen, von Nazi-Lehrern, die alle Entnazifizierungsprozesse überstanden haben, aber inhaltlich waren das noch lupenreine Nazis.
Kerstin: Es kann ja auch einen Effekt haben.
Ralph: Keine Ahnung.
Kerstin: Dass Du Antifaschist geworden bist.
Ralph: Das hatte nichts mit Schule zu tun.
Kerstin: Nee?
Ralph: Nee.
Kerstin: Ich weiß, dass die Schule dich geprägt hat, San. Möchtest du dazu etwas sagen?
San: Heute sind wir erfreulicherweise ganz viele Schülerinnen und Schüler in dieser Schule, die aus verschiedenen Nationen kommen. Der Verwaltung muss ich dafür danken. Gerade in dieser Krisenzeit, haben wir viele Schüler in der Schule, die aus der Ukraine kommen. Für die haben wir eine Klasse eröffnet, speziell dafür, damit sie die Sprache lernen.
Wir hatten das auch in den letzten Jahren, als der Krieg in Syrien ausbrach, immer diese Auffangklassen. Das nennt sich Deutsch als Zweitsprache. Man lernt dort die deutsche Sprache. Jetzt wird intensiv mit den ukrainischen Schülern gearbeitet.
Kerstin: Hast du schon eine Idee, was ihr am 9. November in diesem Jahr machen werdet?
San: Wir als SV haben uns zusammengetan und wollen noch einmal eine Rede anfertigen und uns auch mit ein paar Lehrern von unserer Schule zusammentun, um eine Aktion zu machen, die auch ein bisschen auf den Krieg in der Ukraine eingeht.
Kerstin: Was hat das dann mit dem 9. November zu tun?
San: Der 9. November ist ein Symbol der Unmenschlichkeit, gerade mit dem, was auch durch die Ukraine passiert ist, eine Art Missachtung der menschlichen Werte. Wir wollen das noch einmal unterstreichen, dass auch diese Art von Unmenschlichkeit in dieser Schule nicht geduldet wird.
Kerstin: Jetzt frage ich dann mal den Historiker, der sich mit dem Nationalsozialismus fast ein ganzes Leben auseinandergesetzt hat. Das kann man doch nicht vergleichen, oder?
Ralph: Ich halte das für außerordentlich falsch, was du gerade gesagt hast, weil es meiner Meinung nach auf eine Verharmlosung der Shoah und des Völkermords an den europäischen Juden hinausläuft, wenn man heute diese Vergleiche mit dem Krieg zieht, der gerade in der Ukraine stattfindet. Ich halt es für ein echtes Problem und ich kann dir jetzt schon sagen, wenn ihr das macht, werde ich dagegen protestieren am 9. November. Für mich ist ganz klar, dass der 9. November nicht ein Symbol der Unmenschlichkeit ist, sondern der Holocaust-Gedenktag. Es ist der Gedenktag für Unrecht, dass einer spezifischen Bevölkerungsgruppe angetan wurde.
San: Wir werden es natürlich machen. Für uns ist es klar, dass alle Arten von Unmöglichkeit nicht geduldet sind. Wir erkennen an, dass das, was gerade in Deutschland mit den Juden passiert ist, nicht zu wiederholen ist. Das, was gerade heute – in diesem Jahrhundert – mit den Ukrainern passiert, ist auch nicht zu dulden.
Ralph: Da gebe ich Dir Recht. Man darf das trotzdem nicht verbinden. Das steht jeweils für sich – meiner Meinung nach. So wie Du argumentierst, müsstet Ihr jeden Tag irgendeine Aktion machen. Wir haben z.Z. einen schrecklichen Krieg im Jemen, wir haben einen schrecklichen Krieg in Syrien, wir haben einen schrecklichen Krieg in Mali, um nur einige aktuelle Kriege zu nennen, über die gerade leider niemand spricht. Da findet dasselbe Ausmaß an Ungerechtigkeit statt, wie das, wo gegen Du ausgerechnet am 9. November protestieren möchtest. Der 9. November ist der Gedenktag an die Verfolgung der Juden, die in die Vernichtung umschlug, symbolisiert durch die brennenden Synagogen.
Kerstin: Dieser Tag soll diesem vorbehalten bleiben?
Ralph: Aber selbstverständlich. Man kann ja gerne ein Gedenktag „wir sind gegen den Krieg in der Ukraine“ machen, da habe ich ja gar nix gegen.
Kerstin: Das ist ja eine wunderbare Diskussion geworden. Ich bin ganz gespannt, ob Ihr das jetzt eventuell in eure Diskussion einschließt. Kannst Du dir vorstellen, dass ihr vielleicht noch mal umplanen werdet für den 9. November?
San: Ich kann das auf jeden Fall noch einmal mitnehmen. Das ist aus der Sicht eines wie ich, der kritisch ist, gar nicht nachvollziehbar und das nehme ich auch gerne mit. Allerdings bin ich auch der festen Auffassung, dass alle Arten von Unmöglichkeit hier nicht geduldet werden. Wir haben auch in der Schule ganz viele Flüchtlinge und wir wollen auch Ihnen zeigen, dass das, was ihnen widerfahren ist bedacht wird, und ich kann es verstehen, dass das nicht dasselbe ist.
Ralph: Die Juden sind vernichtet worden, weil sie Juden waren. Die Ukrainer werden angegriffen von einer feindlichen Macht und sie sterben bei Kriegshandlungen. Sie werden nicht umgebracht, weil sie die Eigenschaft Ukrainer zu sein besitzen. Das ist ja nicht nur ein gravierender, sondern ein existenzieller Unterschied.
Kerstin: Es ist der Tag, an dem sehr viele Menschen in Deutschland eine schreckliche Gewalt erfahren haben damals. Das waren ganz bestimmte Menschen, nämlich Juden am 9. November. Und ich erinnere mich da dran, dass oftmals schon die Schülerinnen und Schüler dieses Gymnasiums zur Vorbereitung dieses Tages ins Stadtarchiv gegangen sind, und vielleicht könntet ihr diese gute Tradition wieder aufleben lassen, ins Stadtarchiv zu gehen, um ein Thema für den 9. November zu finden. Und ich kann mir vorstellen, auch da sitzt eine Historikerin, Martina Kliner-Frick, und dann hättet ihr eine Zweit-Meinung. Dann wäre das vielleicht gar nicht so schlecht. Auf jeden Fall können wir festhalten, wie auch immer ihr bestimmte Dinge einordnet oder vielleicht erfahrungsgemäß noch nicht so einordnen könnt, wie jemand, der sich ja lange damit beschäftigt hat, diese Schule das Ruhr-Gymnasium, die mal irgendwann eine feindliche Nachbarin der Synagoge war oder zumindest eine nicht gut sich benehmende Nachbarin der Synagoge war, ist jetzt ein absolutes Bollwerk gegen den Rassismus gegen Unmenschlichkeit. Und am 9. November kommt hoffentlich dann eine Schar von Menschen, die der Vernichtung der Juden gedenken, und das vielleicht ja nicht miteinander vermischen.
Die zweite Staffel des Breddeviertel-Podcasts wird gefördert durch das Kulturforum Witten und die Stadtwerke Witten.