Der Carl-von-Ossietzky-Platz in Witten: Ein Platz erzählt Geschichte

Podcast von Kerstin Glathe und Ralph Klein (Historiker und Autor)

Im Herzen des Wittener Breddeviertels liegt ein Ort, der mehr Geschichten zu erzählen hat, als man auf den ersten Blick ahnt. Der Carl-von-Ossietzky-Platz – heute ein stiller Treffpunkt zwischen Altbauten, Bäumen und Autos – war einst ein Symbol des sozialen Wandels, des Arbeiterlebens und sogar des technischen Fortschritts. Im Gespräch mit dem Historiker und Autor Ralph Klein wird deutlich, dass dieser Platz mehr als nur ein städtebauliches Relikt ist: Er ist ein lebendiges Stück Wittener Identität.

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Vom Marktplatz, der nie einer war

Als die Stadt Witten in den 1860er Jahren rasant wuchs, suchten die Stadtväter nach neuen Orten, um die Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen. „Geplant war hier ursprünglich ein Markt“, erklärt Ralph Klein. „Doch am Carl-von-Ossietzky-Platz hat nie ein Handel stattgefunden.“

Während sich auf dem Rathausplatz und dem Kornmarkt das geschäftige Treiben abspielte, blieb der Ossietzky-Platz eine Art Nebenbühne. Trotzdem entwickelte er sich rasch zu einem sozialen Zentrum. Hier, wo sich die Breite Straße, die Wideystraße und die Galenstraße treffen, siedelten sich im späten 19. Jahrhundert Kneipen, Metzgereien, Kolonialwarengeschäfte und kleine Werkstätten an – das Herz des proletarischen Lebens im Viertel.

Leben im Arbeiterviertel

Die Häuserzeile an der Breitenstraße, heute liebevoll saniert und von Altbau-Fans geschätzt, entstand aus einem der ersten sozialen Wohnprojekte Wittens. „1895 ließ der Spar- und Bauverein diese Gebäude errichten“, erzählt Klein. Die Genossenschaft war eine Antwort auf die elenden Wohnverhältnisse der damaligen Arbeiterklasse. Wer hier wohnte, arbeitete meist in den nahegelegenen Betrieben der Bahn oder der Industrie – und lebte dicht beieinander, mit allem Notwendigen im Umkreis von wenigen hundert Metern.

Doch der Ossietzky-Platz war nicht nur Schauplatz des Alltags, sondern auch Ort des Widerstands. „Hier lebten viele, die in der NS-Zeit Mut bewiesen haben“, so Klein. Adolf Fuchs, Redakteur der SPD-Parteizeitung Volkswacht, wohnte in der Breitenstraße 75 und wurde von den Nazis ermordet. Sein Nachbar Hans Porsch, Kommunist und Spanienkämpfer, überlebte nur knapp. „Er kehrte nach Kriegsende wieder hierher zurück“, berichtet Klein. Heute erinnert eine Gedenktafel an Fuchs – für Porsch, so schlägt Klein vor, solle eine weitere folgen.

Eine Erfindung aus Witten?

Witten war immer auch Stadt der Tüftler. Nur wenige Schritte vom Platz entfernt, in der Wideystraße 37, stand einst die Nährmittelfabrik DASTI – benannt nach ihren Gründern Adolf Damm und Gustav Stiefken. Sie produzierten Back- und Puddingpulver. Und hier beginnt eine jener Geschichten, die zwischen Legende und Wahrheit changieren: „Ein älterer Zeitzeuge erzählte mir, dass Dr. Oetker die Firma aufgekauft haben soll, um sich das Rezept für das Puddingpulver zu sichern“, berichtet Klein schmunzelnd.
Ob das stimmt, bleibt unklar – Oetker selbst dementierte. „Aber es ist eine gute Geschichte“, sagt Klein. „Und vielleicht kommt ja das Puddingpulver wirklich aus Witten.“

Die Friedenseiche – älter als der Platz selbst

Wer heute über den Platz schlendert, dem fällt sofort die mächtige Eiche am nordöstlichen Ende auf. Sie ist der älteste Bewohner des Viertels – etwa 170 bis 200 Jahre alt. Ursprünglich stand sie auf dem alten Marktplatz der Stadt, wo sie 1863 von der Turngemeinde Witten zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig gepflanzt wurde. Als der Platz später gepflastert wurde, entschied man, den Baum zu versetzen – ein logistisches Großprojekt für das 19. Jahrhundert.

Mit viel Aufwand und öffentlichem Spektakel zog die Eiche an ihren heutigen Standort um. Seitdem wird sie „Friedenseiche“ genannt. Klein wünscht sich, dass der Baum endlich den offiziellen Denkmalschutz erhält: „Er ist ein lebendes Geschichtsdokument. Zweimal wurde das schon beantragt, aber der Rat hat es bisher abgelehnt.“

Vom Trafohäuschen zum Kult-Kiosk

Ein weiteres Denkmal steht mitten auf dem Platz – und wird oft übersehen: das kleine Trafohäuschen aus dem Jahr 1925. Ursprünglich diente es der Stromversorgung der umliegenden Haushalte, als die Elektrifizierung in Witten begann. Erst später wurde daraus der legendäre „Kult-Kiosk“.

„In den 1920er Jahren hielt der elektrische Strom Einzug in die Wohnungen“, erklärt Klein. „Damit kamen auch Sicherungen, Lampen und Radios – und die Firma Wickmann aus Witten-Annen lieferte die passenden Feinsicherungen dafür.“ Das Häuschen steht seit 1989 unter Denkmalschutz, seine Toiletten sind jedoch seit Jahren geschlossen – sehr zum Leidwesen der Passanten.

Ein Platz, der verbindet

Heute ist der Ossietzky-Platz kein Marktplatz, kein Verkehrsknoten, sondern ein Ort des Zusammenkommens. Das „Trotz Allem“, ein linkes Kultur- und Nachbarschaftszentrum, belebt den Platz regelmäßig mit Straßenfesten, Lesungen und Weihnachtsaktionen. „Wenn die Autos mal verschwinden, kann man spüren, welche Atmosphäre hier früher herrschte“, sagt Klein. „Dann wird klar: Der Platz gehört den Menschen – nicht dem Verkehr.“

Erinnerung, Wandel und Verantwortung

Der Carl-von-Ossietzky-Platz ist ein Spiegel der Stadtgeschichte: von der industriellen Expansion über das Arbeiterleben, von antifaschistischem Mut bis zu den kleinen Anekdoten des Alltags.
Zwischen Friedenseiche, Backsteinfassaden und Trafohäuschen atmet dieser Platz Geschichte – und stellt zugleich die Frage, wie Witten heute mit seinem Erbe umgeht.

Oder, wie Ralph Klein es formuliert:

„Dieser Platz ist ein Stück gelebter Demokratiegeschichte – man muss nur genau hinschauen.“

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