Spuren des Kolonialismus in Witten

Eine verdrängte Vergangenheit im Ruhrgebiet

Wer heute durch Witten spaziert, sieht auf den ersten Blick wenig, das an die Kolonialzeit erinnert. Keine imposanten Denkmäler mit Palmenreliefs, keine exotischen Figuren auf Marktplätzen. Und doch steckt in Straßennamen, Kirchenarchiven, Unternehmensgeschichten und sogar in den Regalen unserer Supermärkte ein Erbe, das viel mit kolonialer Ausbeutung zu tun hat.

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Kolonialwaren – Exotik im Alltag und ihre dunkle Geschichte

Noch bis ins 20. Jahrhundert waren sogenannte Kolonialwarenläden fester Bestandteil des Wittener Stadtbilds. Der Begriff stand nicht für eine charmante Mischung internationaler Spezialitäten, sondern für Produkte, die aus den europäischen Kolonien stammten – Zucker, Kaffee, Kakao, Reis, Gewürze, Tabak. Importiert wurden sie unter Bedingungen, die auf Sklaverei, Zwangsarbeit und Landraub beruhten.

In der Casinostraße 2 etwa betrieb Franziska Brewa einen Kolonialwarenladen. Heute ist das Haus ein Ort der Erinnerung – wenn man weiß, was hier einst verkauft wurde und wie es produziert worden war.

Straßennamen mit kolonialem Hintergrund in Witten

Ein Blick auf die Stadtkarte zeigt, wie sich koloniale Geschichte in den Alltag eingeschrieben hat.

  • Albert-Schweitzer-Straße – Benannt nach dem berühmten „Urwalddoktor“ in Gabun, der zwar medizinische Pionierarbeit leistete, aber Afrikanerinnen und Afrikaner als „primitive“ Menschen betrachtete und ihnen medizinische Ausbildung verweigerte.
  • Robert-Koch-Straße – Ehrt den Nobelpreisträger, der im Auftrag der Kolonialverwaltung Tropenkrankheiten erforschte. Seine Experimente in Ostafrika wurden oft an Menschen ohne deren Zustimmung durchgeführt – unter Bedingungen, die heute als gravierende Menschenrechtsverletzungen gelten.

Schloss Steinhausen und das „Blutgeld“ aus Java

Eine der deutlichsten kolonialen Spuren in Witten führt zu Schloss Steinhausen. 1850 erwarb es der niederländische Kolonialbeamte Jan Jakob van Braam, der auf Java (heute Indonesien) Reis- und Zuckerbauern brutal ausbeutete. Seine Praktiken führten zu Hungersnöten und Massensterben. Mit dem so erlangten Kapital stieg er in Witten in die Kohle- und Stahlindustrie ein, baute die Zecheninfrastruktur aus und wurde zu einem zentralen Investor in der Industrialisierung der Stadt.
Sein Geld half zwar, Witten wirtschaftlich zu entwickeln, doch die Grundlage dieses Reichtums war Gewalt, Enteignung und Zwangsarbeit in einer fernen Kolonie.

Die Rolle der Kirchen bei der kolonialen Mission

Wichtige Kristallisationspunkte kolonialer Ideologie waren auch die Kirchen. Die Johanneskirche war Sitz von Männer- und Frauenmissionsvereinen, die Gelder für die „Christianisierung“ der sogenannten Heiden sammelten. Predigten, Gemeindeblätter und Zeitungsartikel festigten ein rassistisches Weltbild, das den Kolonialismus moralisch rechtfertigte.

Vom Kolonialsystem bis heute – Kontinuitäten und Auswirkungen

Obwohl Deutschland seine Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg verlor, blieb das koloniale Wirtschaftssystem bestehen. Viele der heutigen globalen Handelsstrukturen – etwa beim Kakao- oder Kaffeeanbau – folgen immer noch kolonialen Mustern.

Auch in Witten lebt dieses Erbe fort – nicht nur in Straßennamen oder historischen Gebäuden, sondern in der Mentalität, in Konsumgewohnheiten und in einer Geschichte, die lange verdrängt wurde. Der relative Wohlstand, den auch eine Arbeiterstadt wie Witten im Laufe des 20. Jahrhunderts genießen konnte, ist mit auf den Schultern kolonialer Ausbeutung erbaut worden.

Sichtbare Relikte in Witten

  • Schloss Steinhausen – Wohnsitz des Kolonialbeamten Jan Jakob van Braam

Ehemalige Kolonialwarenläden in der Breitestraße

  • Breitestraße 77 – ehemaliger Kolonialwarenladen

Edeka und seine koloniale Herkunft

  • Fünf Edeka-Märkte – Edeka steht für „Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin“

Straßennamen als Erinnerungsträger

  • Albert-Schweitzer-Straße – Ehrungen mit kolonialem Hintergrund
  • Robert-Koch-Straße

Kirchen als Zentren der Missionsarbeit

  • Johanneskirche und Marienkirche – Zentren kolonialer Missionsarbeit

Wer durch Witten geht, sieht diese Orte heute vielleicht als unscheinbar – doch wer ihre Geschichten kennt, erkennt darin Spuren eines Systems, das bis heute nachwirkt.

Mehr dazu im Breddeviertel Podcast

Tipp für alle, die tiefer in diese Geschichten eintauchen wollen:
Hören Sie die aktuelle Folge des Breddeviertel Podcast aktuell. Kerstin und Ralf nehmen Sie mit von der Casinostraße bis nach Java, von der Ruhr bis in afrikanische Kolonien – und zeigen, wie eng die Geschichte unserer Stadt mit der des Kolonialismus verwoben ist.

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