Kornmarkt in Witten: Ein Platz zwischen Geschichte, Gegenwart und Zukunft

Im Herzen der Wittener Innenstadt liegt ein Ort, der auf den ersten Blick wie ein gewöhnlicher Parkplatz wirkt, doch in Wahrheit ein bedeutendes Kapitel der Stadtgeschichte verkörpert: der Kornmarkt. Zwischen Kirchenmauern, Bruchstein und Parkbuchten schlägt das historische Herz der Stadt – und es schlägt derzeit nicht leise, sondern lautstark und kontrovers. Denn über die Zukunft dieses Platzes wird gestritten. Und das mit Leidenschaft.

Hier klicken, um den Inhalt von Spotify anzuzeigen.
Erfahre mehr in der Datenschutzerklärung von Spotify.

Vom Getreide zum Streitobjekt: Die bewegte Geschichte des Kornmarkts

Seinen Namen trägt der Kornmarkt nicht zufällig. Witten war einst Schauplatz eines bedeutenden Getreidemarkts, der die Stadt weit über die Region hinaus bekannt machte. Schon vor dem Dreißigjährigen Krieg – also vor 1618 – wurde in Witten Korn gehandelt. 1675 bekam die Stadt erneut das Recht zugesprochen, einen offiziellen Getreidemarkt auszurichten. Dieser erste Kornmarkt lag jedoch nicht dort, wo der heutige gleichnamige Platz ist, sondern im „Oberdorf“, etwa beim heutigen Kreisverkehr Lutherstraße/Johannesstraße.

Im 19. Jahrhundert wuchs die Stadt rasant. Im Zuge der Industrialisierung kamen tausende Menschen nach Witten, viele davon mittellos, ohne Besitz, ohne Garten – aber mit Hunger. Die Stadt reagierte und erwarb ein Grundstück, das einst zum Gelände der Johanneskirche gehörte. 1843 wurde hier ein neuer Markt eingerichtet, der sogenannte „Viktualienmarkt“. Hier konnten sich Arbeiterfamilien mit Grundnahrungsmitteln wie Gemüse, Eiern und Obst versorgen – Lebensmittelgeschäfte gab es damals noch nicht. Parallel dazu bestand weiterhin der Getreidemarkt.

Sackträger-Brunnen in der Heilenstraße.Foto: Marek Schirmer
Sackträger-Brunnen in der Heilenstraße.

In dieser Zeit entstand auch eine städtische Institution, die heute fast mythisch verklärt wird: die Sackträger. Es war ein offizielles Amt. Nur wer unbescholten war, durfte sich die über 125-Kilo-Säcke auf den Rücken hieven und sie zu den Marktständen bringen. Eine harte, gefährliche Arbeit – und ein Sinnbild für die Entstehung der städtischen Logistik in einer sich industrialisierenden Gesellschaft. 1909 setzte man diesen Männern mit dem Sackträgerbrunnen ein Denkmal – mit romantischem Blick zurück, der die Mühsal oft unterschlägt.

Der Kornmarkt als sozialer Brennpunkt – früher und heute

Markt war nicht nur Handel. Markt war auch Kommunikation. Wer wissen wollte, was in der Stadt los war, ging donnerstags zum Kornmarkt. Hier wurden Brotpreise verhandelt – und mit ihnen das tägliche Überleben vieler Menschen. Wenn das Korn knapp wurde, explodierte die Stimmung. 1795 etwa – in den Hungerjahren während der napoleonischen Kriege – kam es zu Tumulten. Frauen, Weber und Bleicher stürmten die Kornmagazine. Die Märkte waren Schauplätze sozialer Kämpfe, lange bevor es Gewerkschaften gab.

Blick vom Marktplatz auf den Kornmarkt.
Blick vom Marktplatz auf den Kornmarkt.

Heute, fast 180 Jahre nach der Einrichtung des heutigen Kornmarkts, ist von dieser Lebendigkeit wenig übrig. Der Platz diente jahrzehntelang als Busbahnhof, dann wurde er asphaltiert und zum Parkplatz umfunktioniert. Die Stadtgesellschaft scheint sich vom Marktgedanken entfernt zu haben. Der Wochenmarkt findet inzwischen auf dem Rathausplatz statt, während der Kornmarkt in der Diskussion um seine Zukunft steht wie nie zuvor.

Blick vom Rathaus-Turm auf den Kornmarkt.Foto: Marek Schirmer
Blick vom Rathaus-Turm auf den Kornmarkt.

Ein Platz im Umbruch: Bebauen, Begrünen oder Bewahren?

Die aktuellen Pläne zur Neugestaltung des Kornmarkts entzünden eine Debatte, die sich quer durch die Stadtgesellschaft zieht. Die Stadt Witten plant eine gemischte Nutzung: Sozialer Wohnungsbau entlang der Johannesstraße sowie eine teilweise Begrünung der Platzfläche – etwa 2.000 Quadratmeter Grün sind vorgesehen.

Doch diese Pläne rufen Widerstand hervor. Die „Initiative für einen grünen Kornmarkt“ fordert, den Platz vollständig zu entsiegeln und ökologisch aufzuwerten – nicht zuletzt im Angesicht der drohenden Klimakrise. Auf Kundgebungen wird der Platz zur symbolischen Grenze zwischen „alter Betonpolitik“ und „grüner Zukunftsvision“ stilisiert.

Auf der anderen Seite stehen Stimmen wie die des Historikers Ralph Klein vom „Breddeviertel-Podcast“, der sagt: „Ich halte das für Quatsch.“ Der Platz, etwa so groß wie der Humboldtplatz, müsse sinnvoll genutzt werden – und dazu gehöre auch dringend benötigter Wohnraum. Klein betont: „Die geplante Bebauung bleibt deutlich unter der historischen Ausdehnung des Platzes. Schon seit dem Mittelalter war der Kornmarkt bebaut. Der offene Platz, wie wir ihn heute sehen, ist eher ein Nachkriegs-Produkt.“

Blick vom Kornmarkt in Richtung Marktstraße vor dem Bau des Celestian-Gebäudes.Foto: Marek Schirmer
Blick vom Kornmarkt in Richtung Marktstraße vor dem Bau des Celestian-Gebäudes.

Ein weiterer kritischer Punkt ist die Frage nach dem Eigentum: Wem gehört der Kornmarkt eigentlich? Laut Ralph Klein wurde der Platz im 19. Jahrhundert mit öffentlichen Geldern erworben – ein Gemeingut, das nicht leichtfertig an Investoren verkauft werden dürfe. „Es handelt sich um ein Stück städtischer Allmende“, sagt er.

Zurück in die Zukunft: Was wird aus dem Kornmarkt?

Ob der Kornmarkt in Zukunft ein neuer Ort des urbanen Lebens, ein Wohnquartier mit Aufenthaltsqualität oder ein grünes Refugium in der Innenstadt wird, ist noch offen. Klar ist nur: Der Ort hat Potenzial – nicht nur räumlich, sondern auch emotional und historisch.

Es wäre an der Zeit, dem Platz wieder Bedeutung zu verleihen. Ein informativer Umgang mit seiner Geschichte – etwa durch den Rückbau des Sackträgerbrunnens mit erklärender Tafel – könnte der historischen Tiefe des Platzes gerecht werden und ihn zugleich zukunftsfähig machen. Der Kornmarkt ist mehr als ein Parkplatz. Er ist ein Spiegel der Geschichte, ein Ort der sozialen Bewegung, ein Symbol des Wandels.

Und wer sich weiter in die faszinierende Geschichte des Kornmarkts, seiner Menschen, seiner Konflikte und seiner Perspektiven hineinhören will, der schaltet die Podcast-Episode des „Breddeviertel-Podcast Aktuell“ ein. In der aktuellen Folge diskutieren Ralph und Kerstin über historische Zusammenhänge, gegenwärtige Konflikte und die Frage, was der Kornmarkt in Witten heute für uns bedeuten kann.

Zu finden auf allen gängigen Podcast-Plattformen – ein Muss für alle, die Witten mit anderen Augen sehen wollen.

Fotograf (alle Fotos): Marek Schirmer

Der „Breddeviertel Podcast aktuell“ ist ein Projekt im Rahmen der Innenstadtentwicklung „unsere Mitte – gemeinsam gestalten“. Die technische Unterstützung des Projekts wird finanziert aus dem Städtebauförderprogramm „Lebendige Zentren“ mit Mitteln des Bundes, des Landes und der Stadt Witten.

Barrierefreiheit